Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland beginnt seine Neujahrsansprache mit dem Krieg in der Ukraine und kommt vom Thema nicht mehr los. Er spricht über Preiserhöhungen im Supermarkt und an der Tankstelle, unter denen die Menschen derzeit ächzen, ohne etwas über den Anteil der deutschen Regierung zu sagen.
Die Teuerung von Energie kam nicht einfach zu Stande, weil Putin nicht mehr geliefert hat, sondern weil die deutsche Regierung es moralisch nicht tragbar fand und findet, russisches Gas und Öl zu kaufen. Dass mit der Sprengung der Ostsee-Pipeline die Hauptschlagader für russische Gaslieferungen ausfiel, wird ebenfalls nicht erwähnt. Stattdessen leitet der Kanzler zu einer anderen Form der Energie über: Zur menschlichen Wärme - denn durch diese zeichnet sich unser Land aus.
"Und wir in Deutschland sind nicht eingeknickt als uns Russland im Sommer den Gashahn zugedreht hat, weil wir uns nicht erpressen lassen." Kein Wort zu den EU-Sanktionen, die diesem Gasstopp vorausgegangen sind. Wenn Deutschland sich in diesem Krieg positioniert und gegen eine der Parteien Sanktionen erlässt, dann muss man auch damit rechnen, dass sämtliche Beziehungen zerstört werden. Wer würde sich einfach gefallen lassen, moralisch verurteilt und mit Strafen belegt zu werden, ohne mit eigenen Mitteln darauf zu reagieren.
Kanzler Scholz freut sich über Zusammenhalt, Stärke und Zuversicht im Land und blickt optimistisch in die Zukunft, der wir mit "Tatkraft und Tempo" begegnen werden. Wir seien ein Land, "das sich unterhakt in schweren Zeiten" - jetzt wo wir wieder näher als 1,5 Meter sein dürfen. "Unser Zusammenhalt ist unser größtes Pfund," spricht er, drei Jahre nachdem man begonnen hat, den Menschen beizubringen, dass Abstand Nähe ist. Kein Wort mehr über Corona, über Krankheit und überlastete Kliniken.
Stattdessen ZUSAMMENHALT, ZUSAMMENHALT, ZUSAMMENHALT, wohl weil das Wort Solidarität inzwischen zu oft verwendet wurde. Zusammenhalten sollen wir. Ich stelle mir vor, wie nun ganz viele ihre querdenkenden Freunde nach dieser Rede ansehen und sagen: "Ach komm, Schwamm drüber, wir halten zusammen." Genau: Lassen wir die Vergangenheit ruhen, reden wir nicht mehr drüber, machen wir einfach weiter, als wäre nichts gewesen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, statt zusammenzuhalten und bewegungsunfähig zu werden, sollten wir uns doch lieber mal alle frei machen und darüber nachdenken, wie wir leben möchten und wofür es sich zu leben lohnt. Wir werden auf viele Ergebnisse kommen und jeder soll seines Weges gehen können - so, wie sich das für freie Bürger gehört.
Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen ein freies und kritisches neues Jahr. Leben Sie Ihr Leben und passen Sie auf, dass nach "Bleibt gesund" nicht "Haltet zusammen" der nächste Befehl wird.
Ihre
Juliane Uhl