
„Die Nazis waren keine Horde urzeitlicher Höhlenmenschen.“ Wie aber konnte dann passieren, was sich in Form des Holocausts zeigte? Wie konnte aus einem Volk, dem man zuschrieb, Dichter und Denker zu sein, eines werden, das die Tötung von sechs Millionen Mitbürgern hinnahm?
Diese Frage stellte sich Leonard Peikoff, Schüler der Philosophin Ayn Rand, bereits 1980. Nun endlich erschien Die unheimlichen Parallelen (TvR Medienverlag) auch auf Deutsch und bietet eine enorme Erweiterung des Nachdenkens über das Dritte Reich. Denn im Fazit, schreibt Peikoff, entstand dieses nicht, weil die Menschen durch Hitler plötzlich zu Nazis wurden, sondern weil die Ideen, die die Deutschen auf Hitler vorbereitet haben, schon Jahrhunderte vorher zu sprießen begannen.
Um es kurz zu sagen: Peikoff hält Kollektivismus und Altruismus, die vom Einzelnen die Unterordnung unter das Kollektive verlangen, für die Wurzel des Übels. Um diese These zu belegen, beginnt er im antiken Griechenland und stellt die Idee des Philosophen Platon vor, der das Universum als eine Zusammensetzung von zwei Teilen versteht. Ein Teil, die materielle Welt, ist erfahrbar. Jedoch ist dieser Teil eingebettet in eine übernatürliche Realität, die eine eigene Entität darstellt. Alles, was wir wahrnehmen, wäre damit nur eine Erscheinung. Und nur die Auserwählten, sprich die Philosophen, haben die Möglichkeit, das große Ganze zu erkennen. Sie sind damit die Einzigen, die die Geschicke eines Staates lenken sollten.
Im Gegensatz zu Platon, der fordert, dass der Mensch verzichtet, sich selbst opfert und sein Selbst im Namen des Kollektivs negiert, rät Aristoteles zum guten Leben durch Selbstverwirklichung. Laut Aristoteles ist die physische Welt ein eigenständiges Reich, das der Mensch wahrnehmen und durch Logik verstehen kann. Für ihn gibt es keine übergeordnete Welt, die nur durch Auserwählte vermittelt werden kann.
Während in der Renaissance Aristoteles´ Gedankens wiederbelebt wurden und Wissenschaft, Philosophie und Freiheit eine Hochzeit erfuhren, kamen danach die Platoniker wieder zum Vorschein und hatten im späten 18. Jahrhundert mit einem deutschen Philosophen ihren Höhepunkt: Immanuel Kant. Kant meinte, dass der menschliche Geist nicht in der Lage sei, das Wahre zu erkennen, weil jeder nur durch seine eigenen Augen sehen kann. Die Logik ist nur eine Methode ohne Bezug zur nicht-erkennbaren Realität. Da der Mensch diese nicht erkennt, muss er glauben. Kant verwirft das Wissen, um zum Glauben zu führen. Der Glaube ist eng verbunden mit der Tugend der Selbstlosigkeit.
Während bei den Moralisten vor Kant noch eine Belohnung, z.B. der postmortale Eintritt in den Himmel, denkbar war, trennt Kant die Tugend von Zielen. Viel mehr noch: Wer auf Grund eines Zieles moralisch handelt, handelt nicht wirklich moralisch. Nur der, der sich im vollen Umfang opfert, ist moralisch. Das Gegenteil der Aufopferung ist Eigenliebe – es geht laut Kant aber nur eines „entweder das Gesetz der Moral oder das Prinzip der Eigenliebe“ (S. 85) gilt. Unter dieser Eigenliebe versteht Kant die „Quelle alles Bösen“ (S. 85). Da der Mensch jedoch natürlicherweise nach dem Glück strebt, muss er dieses Streben abtöten, das Glück vergessen und leiden. Der moralische Mensch leidet. Leiden ist sein Aushängeschild. In Kants Ethik steht die Pflichterfüllung an höchster Stelle. Der moralischste Mensch erfüllt die Pflicht, die ihm widerstrebt. Tue alles, was du sollst, selbst wenn es dich anwidert.
Im 19. Jahrhundert folgte Hegel dem kantischen Denken. Der Mensch hat sich in Hegels Vorstellung dem Staat unterzuordnen, sogar so weit, dass er sein Leben dem Staat geben muss, wenn dieser es fordert. Der Kollektivismus, der bei Platon begann, verbindet sich bei Hegel mit einer absoluten Staatsverehrung.
In Platon, Kant und Hegel sieht Peikoff die Grundsteine eines Denkmusters, das zum Nationalsozialismus geführt hat. Alle drei glaubten an die Dichotomie Erwählte und Verdammte, die sich an den Selektionsrampen der Konzentrationslager manifestierte. „Hegel wäre ohne Kant nicht denkbar gewesen, der wiederum ohne Platon nicht denkbar gewesen wäre. Diese drei sind mehr als alle anderen die intellektuellen Baumeister von Auschwitz“ schreibt Peikoff und provoziert den deutsch-erzogenen Geist auf das Äußerste. Wie kann er es wagen, die großen Meister der Philosophie, die von denen wir lernen sollten, auf eine Stufe mit der Bestie des letzten Jahrtausends zu stellen?
Peikoff endet hier nicht, sondern beschreibt mit den Ansichten vom Höheren und von Autoritätstreue, die Kant & Co vertreten, die Anfänge des Nationalsozialismus. Spannend sind hier vor allem die Überlegungen zu Kunst und Kultur in der Weimarer Republik. Eine Aushöhlung aller Werte, die Zerlegung der Wahrnehmung ins Abstrakte und die Dekonstruktion des Sinnhaften im Theater führten zu einer Kultiviertheit, die nichts mehr anbat, als das Nichts.
Es herrschte die Betonung des Instinkts und der Gefühle, die den Menschen viel näher zum wahren Kern des Seins bringen sollten als Vernunft und Logik. Diese sind kühl, nur die Triebe sind warm und repräsentieren den wahren Menschen. Diese Geistesfeindlichkeit wurde in der progressiven Bildung weitergegeben, indem man den kindlichen Charakter, nicht aber seinen Intellekt stärken wollte. Hier konnte Hitler andocken, denn er wollte emotionale Menschen, die ihren Instinkten folgen sollten. Dazu erzählte er die Geschichte vom "auserwählten arischen Volk" und dem "bösen Juden" und lenkte den Hass der Deutschen auf die "Verdammten". Das Handeln sollte Vorrang vor dem Denken haben, Aktivismus sinnvoller als Nachdenken sein.
„Alleine hätten die Nazis niemals erreichen können, was die Intellektuellen für sich erreicht haben. Alleine hätten die Nazis nicht die Gedanken hervorbringen können, die man braucht, um ein Land zu untergraben – nicht einmal den Gedanken, der sagt, dass man nicht denken soll. [...] (S.79). Die Nazis wussten, wie man dieser Philosophie des Nicht-Denkens, „Menschen hinzufügt, die im Stechschritt marschieren“ (S.80).
Das Buch Die unheimlichen Parallelen erschien 1980 in New York. Mit damals aktuellem Bezug verglich Peikoff die Entwicklungen der Weimarer Republik mit den Entwicklungen in den USA. Diese Kapitel sind ganz interessant, weil man - besitzt man einen scharfen und ehrlichen Blick für das Zeitgeschehen - nicht umhinkommt, auch Parallelen zu Deutschland heute zu erkennen. Die Aushöhlung und Verflachung der Kunst, das gruppenbezogene Denken und vor allem die Aufforderung, alles für die Gemeinschaft (Stichwort: Solidarität) zu geben, fallen hier ins Auge.
Leonard Peikoff, der Ayn Rand mit 17 Jahren kennenlernte und ihr Schüler wurde, knüpft mit seiner Theorie an Rands Gedanken zum Kollektivismus an. Auch er beschreibt die beiden herrschenden Auffassungen von Moral: Entweder das Individuum oder die Gemeinschaft steht im Zentrum. Egoismus vs. Selbstopferung. Die negative Konnotation des Wortes Egoismus wurde uns in den Coronajahren massiv eingebläut. Es hilft, das sei an dieser Stelle erwähnt, Ayn Rands Die Tugend des Egoismus (TvR Medienverlag) zu lesen.
Peikoffs Buch ist, neben Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ein wichtiges Werk, über das Funktionieren totalitärer Regime. Die These, dass kollektivistische Ideen, altruistische Ideale und der Wunsch nach Dirigismus zum Holocaust führten, ist skandalös für Bürger eines Landes, in dem all das auch heute existiert. Peikoff greift damit all das an, was als Tugend verstanden und gepredigt wird. Wenn man sich jedoch auf diese Ideen einlässt, erschließt sich ein neuer Blick auf Geschichte und Zeitgeschehen. Das Buch liefert eine Erklärung für Verhalten, über das man den Kopf schüttelt, aber nicht versteht. Mit seinem Ansatz, die Philosophie als Basis menschlichen Handelns zu betrachten, ermöglicht Peikoff einen anderen Blick auf die Geschichte und vor allem auf das, was täglich um uns herum geschieht. Das Verstehen von Ideen liefert die Basis für ein kritisches und selbstbewusstes Denken. Doch das muss man sich erst einmal trauen.
Leonard Peikoff, Die unheimlichen Parallelen, TvR Verlag 2022 (23,00 Euro) . Das Buch kann direkt im TvR Verlag bestellt werden.